Schwerpunkt "Täuschung und Illusion" - Jahrbuch Technikphilosophie

Deadline: 15.01.2024

Ist Behauptetes falsch, fühlen wir uns getäuscht. Vermag ein Artefakt uns etwas Wundersames vorzuspielen, sprechen wir – nicht selten bewundernd – von gelungener Illusion. Fake also … ambivalent? Fotos von Personen, die nicht existieren, Videos, die reale Personen zeigen, wie sie Dinge sagen, die sie nie sagten, Posts, die Wut artikulieren oder Produkte bewerten, stammend jedoch von Bots: In jüngerer Zeit zeigt sich das enorme Potenzial namentlich von KI, zu Täuschungszwecken eingesetzt zu werden – sei es aus ökonomischen, politischen, ästhetischen oder bloß spielerischen Gründen. 

Der Schwerpunkt der JTPhil 2025 tritt hier jedoch einen Schritt zurück. Gefragt wird nach dem systematischen und gerade auch historischen Ineinander, vielleicht sogar Zusammenhang von Täuschung, Illusion und Technik. Denn ob es um die Geschichte des Maschinenbegriffs geht, die in die neuzeitliche Darstellung wunderbarer und theatralischer Effekteführt, oder ob man, umgekehrt, den Begriff Technik, wie bei Hegel oder Sachsse, von vornherein als List versteht:Technik und Täuschung verweisen nicht erst seit Generative Adverserial Networks (GAN) oder den Halluzinationen von Large Language Models (LLM) aufeinander. Mythos und Theater, Feuerwerk und Gartenbau, erzieherische Strategie und Experiment, Malerei und Messung bieten eine reiche Geschichte, die dies belegt. 

Ließe sich die Geschichte der Technik als eine Fortschrittsgeschichte der Täuschung lesen? Oder bedarf es neuer Techniktheorien der Unterscheidbarkeit von Täuschung und Illusion? Zudem gehören zu funktionierender Technik ja auch Verlässlichkeit und Vertrauen – weswegen auch Täuschungszwecke gewissermaßen seriös ins Werk gesetzt sein wollen. Je komplexer der Illusionseffekt, je anspruchsvoller also womöglich die Technik „dahinter“? So mag die spontane Lüge zwar ohne besondere Mittel auskommen. Die Geschichte von Täuschung und Illusion treibt jedoch Erfindung, Innovation und virtuose Nutzung von Technik – wie auch von Technikkritik und Entlarvungstechniken – voran.

Technik, Schein und Wirklichkeit

Nun wird die Rede von neuen technischen Täuschungsmöglichkeiten häufig so verstanden, dass innerhalb einer feststehenden Unterscheidung von Schein und Wirklichkeit neue Optionen der Täuschungen entstehen. Eine weitergehende These wäre demgegenüber, dass die Unterscheidung von Schein und Wirklichkeit sich mit den technischen Täuschungsmöglichkeiten verändert. Sie betreffen also nicht Phänomene innerhalb dieser „Bereiche“, sondern deren Grenzziehung selbst. 

Drei Überlegungen mögen dies erläutern: 

  1. Der Grenzverlauf zwischen Täuschung und Wahrheit ist historisch kontingent. Wo die Unterscheidung zwischen täuschend und wahr verläuft, ist nicht statisch. Es verändert sich folglich nicht nur, was jeweils materiell als Täuschung und als Wahrheit bestimmt wird, sondern die Grenze, die beides trennt, unterliegt einem Wandel – und dieser Wandel ist an Techniken gebunden, wie die Geschichte des Mikroskops, Teleskops oder der Gestaltfiguren zeigen. 

  2. Die Leitunterscheidungen unterliegen einem historischen Wandel: Täuschung mag als Lüge, als Irrtum, als Simulation, als Illusion oder als Suggestion verstanden werden. Sie kann in Opposition zu Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Originalität, Authentizität, Eindeutigkeit, Gewissheit betrachtet werden. 

  3. Die Grenzfigur selbst weist eine Variabilität auf. Neuzeitlich erscheint die Trennung von Täuschung und „Wahrheit“ vor allem in Teilen der neuzeitlichen Philosophie und dann in den Naturwissenschaften als ein binärer Gegensatz. Etwas ist entweder eine Täuschung oder nicht, unentschieden ist dies allenfalls für einen Beobachter. Im Unterschied dazu gehen wir von der Hypothese aus, dass die vermeintliche Binarität eine historisch bedingte Grenzfigur darstellt. Gebiete des Scheins galten vorneuzeitlich als Teil der Wirklichkeit, nicht als Unentschiedenheit ihres Beobachters. Statt einer binären Linie, die Täuschung und „Wahrheit“ trennt, kann folglich auch eine variable Zone „dazwischen“ bestehen. 

Mögliche Aspekte

Der Schwerpunkt lädt ein, Beiträge einzusenden, sich bspw. folgenden Themen widmen: 

  • Technikgeschichte als Geschichte technischen Fortschritts von Täuschungsmitteln 

  • das Arms Race zwischen Techniken, die Täuschungsmöglichkeiten eröffnen, und Techniken, die Täuschungen aufdecken  

  • spezifische Technologien zu Generierung von Illusionen

  • spezifische Technologien, Täuschungen zu erkennen (z.B. physiologische oder KI-Lügendetektoren)

  • die technologisch formatierte begriffliche Struktur von Täuschung, Illusion, Finte, List, Camouflage, Desinformation und Manipulation

  • Täuschungen, die intentional sind, im Unterschied zu Irrtümern, die unterlaufen oder erwartungsbedingten Selbsttäuschungen, als auch strukturellen Täuschungen (Medien, die nicht-intendiert täuschen)

  • Differenzen zwischen Täuschung/Illusion sowie Täuschung/Fehlfunktion oder auch Kopie/Fälschung an konkreten technischen Beispielen diskutiert und weiterentwickelt.

Diese und wahlverwandte Fragen will das Jahrbuch Technikphilosophie in einem mit der Zeitschrift Technikgeschichtegemeinsam geplanten Schwerpunktheft diskutieren und lädt hiermit Autor*innen zu Einsendungen auf.

Rahmendaten

Über den Schwerpunkt hinaus publiziert das Jahrbuch auch technikphilosophische Abhandlungen zu frei wählbaren Themen und Rezensionen einschlägiger Publikationen. Weitere Informationen finden sich auf der Homepage jtphil.de. Manuskripte in deutscher, englischer oder französischer Sprache können bis zum 15. Januar 2024 eingereicht werden und sollten nicht mehr als 45.000 Zeichen inkl. Leerzeichen und Fußnoten) umfassen. Ein Begutachtungsverfahren (double blind peer review) stellt die Qualität der Abhandlungen sicher. Es besteht die Möglichkeit, bis zum 15. Oktober 2023 Themenskizzen (Abstracts) für Beiträge oder Kontroversen einzureichen, um vorab ein redaktionelles Feedback zu den Manuskriptvorschlägen zu erhalten.

Informationen

Veranstalter
Jahrbuch Technikphilosophie

E-Mail Veranstalter
jahrbuch@phil.tu-darmstadt.de

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