Philosophie des Pazifismus in Kriegszeiten

Deadline: 30.09.2023

Was spricht heute eigentlich für den Pazifismus? Für die im Allgemeinen so begriffene „Anschauung“, die gemäß dem Duden „den Krieg in jeder Form ablehnt und sich für die friedliche Verständigung zwischen den Völkern um jeden Preis einsetzt“? Alles, was gegen den Pazifismus zu sprechen vermag, spricht vernichtend gegen ihn, behaupten seine Kritiker. Denn mit ihm möchten Pazifist:innen politisch wirksam sein; aber der Pazifismus sei politisch verantwortungslos, rigoristisch, naiv und weltfremd. Auf Verantwortungslosigkeit, Rigorismus, Naivität und Weltfremdheit sollte man aber kein politisches Wirken gründen, sondern auf Verantwortung, Anpassungsfähigkeit, Realismus und Weltkenntnis. Mit ihm wollen Pazifist:innen eine respektable normative Position anbieten, der sich sowohl Kollektive als auch Individuen anschließen sollten, um ihr Agieren und Handeln zu bestimmen; aber er sei moralisch diskreditiert, gefährlich und zu unangemessenen Handlungen verleitend – etwas Derartiges sollte man nicht zu empfehlen suchen. In einer Welt, die dauerhaft befriedet wäre, dürfte man ihn getrost vertreten; aber in einer von physischen Gewaltakten, Militärmanövern, Brandschatzungen, Folterungen und Kriegen gezeichneten Welt, in der realpolitische Anforderungen, Bündnisverpflichtungen und Interessen ihren Tribut zollen, sei es falsch, sich der bloß vermeintlich wohlmeinenden Irrlehre des Pazifismus anzuschließen. In anderen Worten: Er taugt für die Praxis in einer Welt, die es nicht geben wird und in der man ihn nicht braucht, aber er taugt nicht für die Praxis in der Welt, in der wir uns befinden.

In der Öffentlichkeit wird seit dem Beginn des moralisch inakzeptablen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine (teils polemisch) über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit und die Moralität oder Unmoralität des Pazifismus (oder was dafür gehalten wird) diskutiert. Dabei ist nicht immer klar, über was genau gesprochen wird und welche Form des Pazifismus gestützt oder kritisiert werden soll. Bisweilen wird die Angemessenheit des Pazifismus in politischer, bisweilen in moralischer Hinsicht in Zweifel gezogen. Angesichts dessen ist es ein sowohl öffentlich als auch fachwissenschaftlich relevantes Unterfangen, sowohl a) begriffliche b) politisch- und sozialphilosophische als auch c) moralphilosophische Fragen zur Philosophie des Pazifismus erneut oder erstmals zu stellen.

In der Fachwissenschaft des deutschsprachigen Raumes ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten (seit dem Beginn der 2000er-Jahre) eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Philosophie des Pazifismus – eingedenk weniger rühmlicher Ausnahmen (z. B. Müller 2006 und 2017, Hinsch 2017 und Thiele 2022) – nicht zu erkennen; in anderen Sprachräumen wurde mehr publiziert (z. B. Fiala 2018 und Holmes 2012 und 2015). Mit dem Schwerpunkt „Philosophie des Pazifismus in Kriegszeiten“ soll dazu beigetragen werden, ein philosophisch relevantes Thema abermals in den fachwissenschaftlichen „Debattenraum“ zu stellen, und zwar nicht in ideengeschichtlicher und in realgeschichtlicher, sondern in systematischer, analytischer und aktueller Perspektive.

Wir freuen uns über die Einreichung von Beiträgen u.a. zu den folgenden Fragen:

  • In welchen Formen tritt der Pazifismus in der fachwissenschaftlichen Diskussion auf und wie sind diese Formen voneinander zu unterscheiden (z. B. radikaler vs. pragmatischer Pazifismus, individualethischer vs. kollektivethischer Pazifismus)?
  • In welchem Verhältnis stehen Pazifismus und verschiedene Formen humanitärer und militärischer Intervention? Sind der „contingent pacifism“ (Rawls) bzw. der „aufgeklärte Pazifismus“ (Hinsch) bzw. der „Just-War-Pazifismus“ als Formen des Pazifismus oder begrifflich als Anderes zu erfassen?
  • Kann der radikale kollektivethische Pazifismus überhaupt attraktiv verteidigt werden?
  • Wie ist der Pazifismus aus der Perspektive der Standardansätze normativer Ethik zu beurteilen (Konsequentialismus, Deontologie, Tugendethik, Ethischer Kontraktualismus)? Wie könnte eine pazifistische Position – eingedenk eines berühmt-berüchtigten Begriffspaars – sowohl gesinnungs- als auch verantwortungsethisch begründet werden?
  • Wie ist der Pazifismus aus feministischer, intersektionaler und postkolonialer Perspektive zu beurteilen? Welche neuen oder oftmals verkannten Einsichten lassen sich aus entsprechenden Analysen gewinnen und ergeben sich hieraus womöglich spezifische Formen des Pazifismus?
  • In welchem Verhältnis steht der Pazifismus zu neuartigen Kriegs- und Konfliktformen (z. B. Cyberwar; Manipulation von Informationstechnologien und -infrastrukturen)? Kann ein Pazifismus begründet werden, der diesen Formen positiv gegenübersteht?
  • Ist die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes, eines Atomkrieges und des militärischen Angriffs auf Atomkraftwerke eine solche, die für oder gegen die Einnahme einer pazifistischen Politik spricht? Wie steht es politisch-normativ um den Atom- bzw. Nuklearpazifismus heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts?
  • Welche erfolgversprechenden Arten gewaltlosen bzw. zivilen Widerstandes gegen militärische Aggressionen und Gewalteinsätze kann ein:e Pazifist:in heute zur Diskussion stellen? Wie verhalten sich Formen individuellen und kollektiven Widerstands zueinander und wie sind sie ethisch zu beurteilen?

Die Einreichungsfrist ist der 30.09.2023, die Beiträge werden wie üblich doppelt blind begutachtet. Die Veröffentlichung des Schwerpunkts ist für 2024 geplant. Die Einreichung erfolgt über die Homepage der ZfPP unter: https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/schwerpunkte. Informationen zu Umfang und Gestaltung des Manuskripts finden Sie hier: www.praktische-philosophie.org/zfpp/aufsaetze

Bei Rückfragen, insbesondere zur thematischen Ausrichtung der Beiträge, kontaktieren Sie gerne die Schwerpunktherausgeber:innen: Dr. Christoph Sebastian Widdau (christoph.widdau@ovgu.de), Dr. Katharina Naumann (katharina.naumann@ovgu.de) und M.Ed. Luisa Büschleb-Köppen (luisa.bueschleb-koeppen@ovgu.de).

Zitierte Literatur:

Dudenredaktion: Pazifismus. In: Duden. Das Herkunftswörterbuch. Dudenverlag, Berlin 2014, S. 623.

Fiala, Andrew (Hrsg.): The Routledge Handbook of Pacifism and Nonviolence. New York / London 2018.

Hinsch, Wilfried: Die Moral des Krieges. Für einen aufgeklärten Pazifismus. München 2017.

Holmes, Robert L.: The Metaethics of Pacifism and Just War. In: Philosophical Forum Quarterly 2015, S. 2–15.

Holmes, Robert L. / Gan, Barry L. (Hrsg.): Nonviolence in Theory and Practice. 3. Auflage. Long Grove 2012.

Müller, Olaf: Pragmatischer Pazifismus. In: Werkner, Ines-Jacqueline / Ebeling, Klaus (Hrsg.): Handbuch Friedensethik. Wiesbaden 2017, S. 451–466.

Müller, Olaf: Chaos, Krieg und Kontrafakten. Ein erkenntnistheoretischer Versuch gegen die humanitären Kriege. In: Bleisch, Barbara / Strub, Jean-Daniel (Hrsg.): Pazifismus. Ideengeschichte, Theorie und Praxis. Bern /Stuttgart / Wien 2006, S. 223–263.

Thiele, Stefanie: Warum Deontologen Pazifisten sein müssen. Zur Proportionalitätsbedingung des gerechten Krieges. Baden-Baden 2022.

Informationen

Veranstalter
Zeitschrift für Praktische Philosophie

E-Mail Veranstalter
https://www.praktische-philosophie.org/zfpp/schwerpunkte

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